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Am 01.11.2008 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den folgenden Leserbrief:
Mehr bei Sinnen als seine Kritiker
Zum Artikel ”Kritik an Sinn" (F.A.Z. vom 27. Oktober): Die Beckmesser und Reichsbedenkenträger dieser Republik sahen sich also mal wieder veranlasst, auf ein aus dem Zusammenhang gerissenes Wort hin ihre Vorurteile zu fällen. Das zeugt von wenig demokratischer Reife und noch weniger von intellektueller Fähigkeit oder einer fairen Diskussionskultur. Diese völlig irrationalen Überreaktionen bewirken das Gegenteil und sind nur Wasser auf die Mühlen von wirklichen Neonazis und Ewiggestrigen. Professor Werner Sinn hat schlicht das Phänomen der Sündenböcke beschrieben: dass wir dazu tendieren, Personen und Gruppen in Krisen allein-verantwortlich zu machen, statt das System zu hinterfragen und damit auch unsere jeweils individuelle eigene Schuld an einer Krise. Dazu hat er auf ein historisches Beispiel verwiesen, wohin das führen kann. Professor Sinn ist somit mehr bei Sinnen als all seine Kritiker und mit allen Sinnen auf Seiten der vom NS-Regime verfolgten und ermordeten Juden. Wer in seine Aussage etwas anderes hineinliest, setzt sich dem Verdacht aus, die Judenverfolgung heute für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Und das ist viel schlimmer und eine Beleidigung der Opfer des Nationalsozialismus. Sinn hat somit völlig richtig die Diskussion auf einen wunden Punkt gelenkt:
Welche Politiker, Klein- und Großaktionäre und so weiter haben denn in den letzten Jahren gegen irrationale hohe Renditen protestiert? Hier waren doch alle systemimmanent geldgeil und gierig auf mehr und mehr Gewinn.
Das Fehlverhalten vieler Banker und Manager ist nur Abbild einer gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklung, wo sich kaum jemand ausnehmen kann. Auch Bischöfin Käßmann sollte da vorsichtig sein. Auf Synoden der EKD gibt es derzeit vor allem nur ein Thema, nämlich Geld und nicht sehr christliche Verteilungskämpfe innerhalb der Kirche. Es wird höchste Zeit, dass ein jeder in diesem Land sich kritisch hinterfragt, wo er seinen Teil Mitschuld - zumindest durch Schweigen - an einem grassierenden Materialismus und rapiden Verfall von Werten jenseits von materiellem Return on Invest hat. In diesem Sinne ist Professor Sinn für seinen berechtigten Denkanstoß zu danken.
FRIEDRICH HAAS, KREUZTAL
Ich stimme der Darlegung von Herrn Haas in vollem Umfang zu. Sie bringt das Zwanghafte, das der an Prof. Sinn geübten Kritik anhaftet, dem man in ähnlichem Zusammenhang in unserem Lande bis zum Überdruß begegnet, mit präziser Deutlichkeit zum Ausdruck. Das veranlaßte mich, noch am gleichen Tage den folgenden Leserbrief an die FAZ zu senden:
”Leser Friedrich Haas dankenswerten Beitrag möchte ich mit einem Satz ergänzen: Der Kritik an Prof. Sinns Äußerung wohnt die Logik einer Wahnvorstellung inne.”
W. K. 01.11.2008
Nachträglich fällt mir auf, daß Nichtmediziner möglicherweise Schwierigkeiten mit dem Verständnis der “Logik einer Wahnvorstellung” haben könnten. Deshalb: Wahnideen, Wahnvorstellungen, wahnhafte gedankliche Inhalte, Schlußfolgerungen, Ansichten, Meinungen sind definiert als falsche, der Wirklichkeit nicht entsprechende, durch Tatsachen, Beweisgründe nicht korrigierbare Denkergebnisse; nur wo gedacht und geurteilt wird, kann (nach Jaspers) Wahn entstehen ( Quelle: u.a. Haring und Leickert, Wörterbuch der Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete, Schattauer, Stuttgart/New York, 1968). Beliebtes Prinzipbeispiel aus dem akademischen Unterricht: “Es hat geklingelt!” --> “Es hat nicht geklingelt. Es ist niemand an der Tür” --> “Es hat aber doch geklingelt!!” --> “Es kann nicht geklingelt haben. Die Klingel ist defekt” --> “Es hat aber dennoch geklingelt!!!” --> “Es kann überhaupt nicht geklingelt haben, weil keine Klingel installiert ist” --> “E s h a t g e k l i n g e l t !!!!”
W. K. 19.05.2009
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