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In seinem Artikel "Gezeitenwechsel ", FAZ vom 30. Januar 2006 wirft Herr Dr. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, unter anderem die Frage auf, "warum sich eine Mehrheit der Deutschen einst für die Unmenschlichkeit entschieden hatte". Eine solche Entscheidung fand nie statt. Wann sollte sie auch ?? Mit der Annahme des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich (sog. Ermächtigungsgesetz) durch den Deutschen Reichstag am 23. März 1933 begann in Deutschland eine Diktatur, die Entscheidungen "der Mehrheit der Deutschen" nicht mehr zuließ. Da die NSDAP im Reichstag am 23.März 1933 nur über 44,5 % der Sitze verfügte, benötigte sie für die notwendige Zweidrittelmehrheit die Unterstützung anderer Parteien und bekam sie auch. Der Gesetzesvorlage stimmten 444 der 538 anwesenden, namentlich bekannte Abgeordnete zu. Sie sind 0,00067 Promille der 66 Millionen Einwohner Deutschlands im Jahre 1933, und sie sind für diese Schlüsselentscheidung verantwortlich. Die politischen Umstände, unter denen diese Entscheidung gefällt wurde, gehören zu meinen frühen Kindheitserinnerungen. Sie sind zudem von der zeitgeschichtlichen Forschung inzwischen soweit gesichert, daß ich nicht wage, den damals Entscheidenden einen Vorwurf zu machen, obwohl mein eigenes Leben durch die Folgen ganz erheblich beeinträchtigt worden ist. Solche Kindheitserinnerungen kann der 1943 in Lublin geborene Dr. Korn, der nach seinem taz-Interview vom 06.05.2004 im Jahre 1949 mit seinen Eltern nach Frankfurt übersiedelte, naturgemäß nicht haben. Historische Fakten aber sind ihm zugänglich. Zu denen gehört auch, daß Diktaturen immer von einer Handvoll, nie durch Mehrheiten errichtet und stets von Minderheiten gegen Mehrheiten aufrecht erhalten wurden und werden. Die Unterstellung, die Mehrheit der Deutschen hätte sich "einst" (1933) für die Unmenschlichkeit entschieden, halte ich für die Fortsetzung des Tätervolkvorwurfs unter Vermeidung der zum Unwort erklärten Vokabel.
W.K.
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