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Philosophisches Seminar

Dr. Wolfgang Klein


 

       Erstes philosophische Kurzseminar für    meinen lieben Enkel Berni  *12.07.1993

Wenn getauft wird, wird gegessen; vorher, hinterher, nicht nur am Tauftag,  meist mit vielen Gästen und oft.  Das war auch bei Karinas Taufe so. Die Kinder saßen am Katzentisch. Dieser bestand nebst zugehörigen Sitzgelegenheiten aus einer Bierzelt- oder Biergartengarnitur in Kindergröße. Solche Möbel sind üblicherweise zusammenklappbar, was meist mit Einbußen an Standfestigkeit -  einer gewissen Wackeligkeit also - verbunden ist. So auch in unserem Fall. Zu bestimmten Speisen muß es - vor allem für Kinder -  "Ketchup" geben. Auch das war in unserm Fall so. Ketchup ist in aller Regel in Flaschen abgefüllt, die sich verschlußseitig stark verjüngen und auch das traf  zu. Ketchup hat für gewöhnlich eine verhältnismäßig hohe Viskosität, was der Entleerung von Resten aus der Flasche hinderlich ist. Man schafft Abhilfe, indem man die Flasche auf den Kopf stellt. Der Inhalt fließt dann langsam in Richtung Verschluß. Öffnet man diesen nach gehörigem Abwarten, quellen reichliche Ketchupströme hervor. Da in der Flasche beim Taufmahl nicht mehr viel drin war ( die Reste müssen schließlich auch gegessen werden ) stellte Berni sie auf den Kopf. Sicher hatte er das längst bei den Erwachsenen so gesehen. Als ein prüfender Rundblick der Gastgeberin, Hausfrau und Mutter den geschilderten Sachverhalt erfaßte, wurde mit Hinweis auf die Wackeligkeit des Katzentisches und das dadurch vorprogrammierte Unglück angeordnet, die Flasche in die konstruktionsseitig vorgesehene Position zu bringen. Im übrigen sei die Flasche auch nicht geeignet, auf dem Kopf zu stehen. Der Weisung wurde - zwar zögerlich, deutlich widerwillig und unter Hervorbringen Unmut andeutender Laute - schließlich dann aber doch gefolgt.

Wenig später benötigten die Erwachsenen Ketchup. Die Gastgeberin holte die Flasche vom Katzentisch und - jetzt kommt Entscheidendes - stellte sie nach Gebrauch, sicher aus den bereits dargelegten und auch einsehbaren Gründen, im Kopfstand auf den Erwachsenentisch.  Prompt kam der Protest vom Katzentisch. "Mama, warum dürfen wir nicht, was du machst," fragte Berni. Geduldig steht die Mutter Rede und Antwort: Der Katzentisch ist wackelig. Die Gefahr, daß die kopfstehende Flasche umfällt, Geschirr zerschlägt oder am Boden zerschellt ist groß, insbesondere, wenn impulsive Kinder am Tisch sitzen. Der Erwachsenentisch ist nicht wackelig und die Großen können mittels größerer Umsicht der Gefahr des Umsturzes besser vorbeugen. Kurze Pause. Dann: "Aber Mama, du hast gelogen." - "Wieso habe ich gelogen?" - "Du hast gesagt, die Flasche sei nicht geeignet, auf dem Kopf zu stehen und das stimmt nicht. Also hast Du gelogen!" Nach kurzem Hin und Her wird die Gastgeberin, Hausfrau und Mutter durch anderweitige Pflichten in Anspruch genommen. Die Diskussion verläuft im Sande und Berni hat und behält ( wie leider nicht ganz selten; leider: weil es ihm nicht gut tut! ) das letzte Wort.

Ich dachte bei mir: Merk' dir die Episode, möglichst in allen Einzelheiten. Darauf mußt du zurückkommen. Die Gelegenheit wird sich ergeben, weil wir nach den Tauffeierlichkeiten durch die geplante Reise nach Zinnowitz mit Zwischenaufenthalt in Berlin Berni und seinen Bruder fast drei Wochen lang bei uns haben werden. Auf der Fahrt nach Berlin hatte ich reichlich Zeit, mein Vorhaben zu durchdenken. Es war im heimatlichen Berlin am 08. oder 10. August (2001) als Berni nach dem Mittagessen fragte, was wir denn jetzt machen könnten. Ich schlug ihm vor, ein kleines philosophisches Seminar abzuhalten. Er willigte ohne Zögern und ohne zu wissen, worauf er sich einließ, ein.

Meine Frage, ob er denn wisse, was Philosophie sei verneinte er ebenso wie die, wie man denn Abhilfe schaffen könne, wenn man etwas nicht weiß. Wir gingen in unsere kleine Bibliothek. Ich zeigte ihm unsere Lexika und erklärte, daß in einem Lexikon eine große Anzahl von Stichworten mit den zugehörigen Erläuterungen alphabetisch aufgelistet ist. Man könne das gesuchte Stichwort dadurch leicht finden und seine Bedeutung nachlesen. Wir setzten uns an den kleinen Lesetisch und schlugen im 25bändigen Meyer aus den 80er Jahren das Stichwort "Philosophie" auf. Es fand sich eine mehrseitige Abhandlung. Den ersten sehr langen Satz verstand ich mit Mühe, Berni - wie er auf Befragen bekundete  - gar nicht. Wir haben uns dann nach ca. 10-15 Minuten dauerndem Studium auf folgende Definition geeinigt, die - das sei für alle Fälle und vorsorglich angemerkt - dem Entwicklungsstand eines Achtjährigen zu entsprechen hatte: Philosophie ist Problembehandlung mit geistigen Mitteln mit dem Ziel einer Problemlösung. Nun stellte ich die vorher - von ihm unbemerkt - bereitgestellte  Ketchupflasche auf den Tisch und fragte, ob ihm dabei etwas einfiele. Er verneinte. Ich stellte die Ketchupflasche kopf. Auch jetzt fiel ihm noch nichts ein. Nun erzählte ich die ganze oben dargestellte Geschichte vom Taufmahl. Ein leises Lächeln stahl sich in Bernis Gesicht. Man sah:   Allmählich kam ihm die Erinnerung wieder. "Aber Opa, was hat das mit Philosophie zu tun ?" Ich sagte, in der Geschichte stecken zwei Problemstellungen, die mit dem Ziel einer Problemlösung  mit geistigen Mitteln behandelt werden sollten. Ich hielte das für wichtig. Welche das denn seien, war die Frage. Die Meinungsverschiedenheit beim Taufmahl hatte sich daran entzündet, daß die Ketchupflasche auf dem Katzentisch kopf stand und seine Mama die Feststellung traf, sie sei hierfür nicht geeignet, antwortete ich. Dem pflichtete er bei. Wir haben dann gemeinsam eine Formulierung der zu behandelnden Problemstellung erörtert und sind einvernehmlich zu dem Ergebnis gekommen, unsere Problemstellung laute: Ist die Ketchupflasche geeignet auf dem Kopf zu stehen ? Ja oder Nein ! Dabei stellte ich die inzwischen gesicherte Flasche wieder kopf. Prompt meinte Berni: "Ja, sie ist geeignet !" Nun äußerte ich die Vermutung, er käme zu dieser Antwort, weil die Flasche vor unseren Augen, wie auch auf dem Erwachsenentisch beim Taufmahl, tatsächlich auf dem Kopf stand. Er nickte und ich sagte: "Vorsicht, Berni, wir haben mit der Problembehandlung noch gar nicht begonnen. Hierzu müssen wir erst einmal festlegen, was unter "geeignet" zu verstehen ist." Wir machten uns an die Arbeit und kamen zu dem Ergebnis, "geeignet" heiße, daß eine Vorgehensweise oder ein Gegenstand  mit hoher Wahrscheinlichkeit das angestrebte Ziel erreicht bzw. dem angestrebten Zweck dient. In unserem Fall bedeute das, die Flasche müßte auch im Kopfstand ausreichende Standfestigkeit aufweisen. Ich rüttelte ein wenig an unserem Tisch und die Flasche fiel um. Bei der Wiederholung in konstruktionsseitig vorgesehener Standposition blieb sie stehen. Wir haben das noch einige Male in beiden Flaschenpositionen wiederholt und an einigen analogen Beispielen verdeutlicht. Ich blickte in zwei große, glasklare, graublaue Kinderaugen, aus denen ein scharfer kleiner Verstand mir entgegen leuchtete. Berni sagte: "Du hast recht Opa, die Flasche kann zwar auf dem Kopf stehen, aber geeignet ist sie dafür nicht." Wir waren uns einig: Was geht oder möglich ist, ist deshalb noch lange nicht geeignet! Ich dachte: Was alles und wer alles fällt einem bei dieser Feststellung ein ??!?  Meine Frage nach der zweiten einer Lösung zuzuführenden Problemstellung blieb zunächst auch unbeantwortet. Ich erinnerte Berni daran, daß er seine Mutter angesichts der auf dem Kopf stehenden Ketchupflasche der Lüge zieh, weil sie die Flasche als für den Kopfstand ungeeignet bezeichnet hatte. Er leitete nun ohne Mühe selbständig ab, dieser Vorwurf sei nicht aufrecht zu erhalten, da die Mama mit ihrer Beurteilung der Flascheneignung - wie wir soeben festgestellt hätten - recht habe. Noch einmal mußte ich helfen. Ein Teilaspekt der zweiten Problemstellung war noch nicht erledigt. Deshalb warf ich die Frage auf, was denn eine Lüge sei. Wir arbeiteten uns an die Antwort, an eine Begriffsdefinition heran: Eine Voraussetzung für lügen ist das Wissen um die Wahrheit, das Wissen darum, was richtig ist. Wer dieses Wissen hat und dann vorsätzlich, absichtlich, meist mit der Absicht den anderen zu täuschen oder gar zu betrügen etwas Anderes, Falsches, Unwahres sagt, der lügt. Wer etwas Falsches sagt, weil er das Richtige nicht weiß, weil er die Wahrheit nicht kennt, der lügt nicht sondern irrt. Auch jetzt fiel es Berni nicht schwer den sich ergebenden Schluß zu ziehen: Die Mutter konnte im vorliegenden Fall auch deshalb nicht "gelogen" haben, weil zur Lüge die vorsätzliche Äußerung der Unwahrheit  gehört. Und wieder traf mich der Blick aus den großen, strahlenden Kinderaugen: "Opa, das war toll."

Berlin, 15. September 2001       W.K.

 

 

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